Rainer Marx - Kommunizierende Farbfelder

Kommunizierende Farbfelder
… und sie bewegen sich doch!

Wer auch nur mit dem Gedanken spielt, ein Bild zu malen, steht bereits in einer Tradition. Jeder weitere Schritt auf dem Weg zur Realisierung dieses Vorhabens ist eine Präzisierung dieses Standpunktes innerhalb der Tradition. Ein Außerhalb gibt es nicht.
Mindestens das haben Betrachter und Künstler gemeinsam: Sie beide müssen sich zurechtfinden in einem Raum, den die Tradition aufspannt. Und beide hören sie darin das Raunen all der gebetenen und ungebetenen Gäste im Keller, das Murmeln der Bilder aus den Galerien und Museen. Doch welche Stimmen man hört, in welche man mit einfällt und welche man zum Schweigen bringt, das bleibt oft schwer zu ergründen.

So viel ist sicher: Jürgen Reichert steht in der Tradition der Farbfeldmalerei, die ihren Ursprung nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA hatte, bevor sie auch in Europa Anhänger fand. Schon öffnen sich die Farbräume Mark Rothkos, man wandert durch Arshile Gorkys imaginäre Landschaften, versinkt in Ad Reinhardts Farbstrukturen und träumt in Farbe mit Sam Francis oder Helen Frankenthaler. Es ist müßig, Jürgen Reicherts Bilder nach solchen Parallelen abzusuchen, denn dabei wird zwangsläufig immer der Großteil eines Bildes ausgeblendet, das Bild gleichsam in Fragmente zerlegt, die als solche aber kaum noch aussagekräftig sind. Gerade bei abstrakter Malerei ist die Gefahr groß, dass die Eindrücke vormals rezipierter Bilder diejenigen einer gegenwärtigen Bildbetrachtung überlagern, besonders wenn einzelne Elemente, Formen oder Strukturen “bekannt” erscheinen. Niemand würde auf die Idee kommen, zwei gegenständliche Bilder in Beziehung zu setzen, nur weil auf beiden ein Hund zu sehen ist. Im Falle abstrakter Malerei und, sagen wir, eines roten Dreiecks allerdings wird der Bogen geradezu reflexhaft geschlagen. In gewissem Maße ist es notwendig, sich genau dagegen zu wehren. Denn worum es Reichert geht ist das Verhältnis der Formen und Farben zueinander. Es geht um die Möglichkeit, mittels Farbe einen Raum zu strukturieren. Es geht um die Möglichkeit, mittels des Bildraums auch den Außenraum zu strukturieren. Es geht um die Möglichkeit, mittels Form der Farbe zu ihrem Recht zu verhelfen.
Die Farbe ist das Material.

Wenn ich das richtig sehe, sind es vier Bildtypen, auf die Jürgen Reichert immer wieder zurückkommt. Da sind einmal jene breiten, geschlossen wirkenden, eckigen Farbflächen, die vertikal über das Bild laufen, sich gegenseitig überlagern, wobei sich deren Farbwerte verstärken, vermischen oder auslöschen. Anders als bei allen anderen Bildtypen verwendet Reichert hier kaum Komplementärfarben, sondern setzt bevorzugt solche Farben ins Verhältnis, die im Farbkreis unmittelbar nebeneinander liegen. Das verstärkt noch einmal den Eindruck der Flächigkeit, der durch die sehr breiten Formen ohnehin schon gegeben ist.
Farbe ist nichts als Fläche.

Zum Zweiten finden sich Bilder, die ausschließlich aus kleinen Farbflächen bestehen, die lasierend auf die Leinwand aufgebracht sind und den Bildraum rhythmisch strukturieren, vertikal wie horizontal. Diese Bilder wirken aufgrund der scharfen Konturen der einzelnen Formen enorm dynamisch, laufen über die Ränder hinaus aus dem Rahmen, drängen sich neben-, über- und durcheinander.
Farbe ist nichts als Bewegung.

Zur dritten Gruppe gehören die Bilder mit fast durchgehend rundlichen Farbflächen von geringer Dichte, luftige Farbkissen, die auf einer weiß grundierten Leinwand dahinzuschweben scheinen, um sich hier und da zu streifen, abzustoßen oder durcheinander durch zu fließen. Dabei sind die Farbtupfen oft so stark lasierend aufgetragen, dass die Bilder richtiggehend in die Tiefe weisen. Runde Formen bringen insgesamt mehr Plastizität ins Bild, wodurch diese Bilder eher als Raum erfahren werden, der sich nach außen oder innen wölbt, ruhig, aber stetig.
Farbe ist nichts als ein unendlicher Raum.

Viertens sind diejenigen Bilder zu nennen, die wesentliche zeichnerische Elemente besitzen, Linien, Formen oder grafische Symbole. Hier ringt die Farbe mit der Form, ohne dass sie in ihre alte Rolle zurückfiele, lediglich Inhalt zu sein, der in eine vorgezeichnete Form gegossen wird. Die eine Farbe wird der anderen zum Gefäß, grenzt sie ein und wird gleichzeitig von ihr oder von anderen Farben umflossen.
Farbe ist nichts als grenzenlose Form.

Was nun allerdings die Programmatik angeht, steht Jürgen Reichert ganz und gar nicht in der Tradition der Farbfeldmalerei der 40er- und 50er-Jahre. Denn während die meisten Vertreter des Color Field Painting in der Suche nach dem Schönen in Kunst und Natur eine Sackgasse sahen und, allen voran, Barnett Newman stattdessen das Erhabene als die höchste Bestimmung der Kunst preisten, geht es Reichert gerade darum, die Bilder von jedwedem spirituellen Überbau, von Zitaten und Anspielungen zu befreien. Auch er hat dem Schönen abgeschworen, zermalt es, wo immer es sich ins Bild geschlichen hat, aber er setzt nichts anderes an seine Stelle. Farbe und Form werden zu Protagonisten seines Werks. Ein Bild soll nichts bedeuten, es soll nicht im Dienste von etwas stehen, es soll wirken. Ein Bild soll nur das sein, was es in der unmittelbaren Betrachtung preisgibt. Alles andere liegt außerhalb des Bildes, das heißt innerhalb des Rezipienten: ein unhintergehbarer Bildungs- und Erfahrungshorizont. Schon dringt es wieder ans Ohr, das Raunen der Geschichte.

Rainer Marx, im August 2008

Zuletzt aktualisiert am 27.05.2015 von admin.

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