Rainer Marx - An den Grenzen der Farbe – 2006

Zu sehen – heißt das nicht immer primär wiederzuerkennen? Ein Tisch, ein Stuhl, ein menschliches Gesicht. Es gibt ihn, diesen unablässigen Drang des Auges, die Umwelt innerhalb der Kategorien des bereits Bekannten zu vermessen, die Bilder auf der Netzhaut mit den im Laufe der Jahre gesammelten Eindrücken von den Dingen abzugleichen, sich immer wieder Gewißheit darüber zu verschaffen, daß es ist, wie es ist. Nicht zuletzt um uns einen stabilen Kontext zu verschaffen, in den wir uns einzuordnen vermögen, uns eine Perspektive zu geben, eine Orientierung im Raum. Vor allem aber einen Standpunkt, von dem aus es möglich wird, „ich“ zu sagen. Ohne die Fähigkeit des Wiedererkennes wären wir vollkommen hilflos.
Im April 1819 schrieb Johann Wolfgang von Goethe an Kanzler Friedrich von Müller: „Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht.“

Jürgen Reichert malt, was er nicht weiß. Und vielleicht gerade deshalb sieht er. In der Tradition der Farbfeldmaler der New Yorker Schule, insbesondere Mark Rothkos, verwischt er gezielt die Spuren alles Gegenständlichen, um ein Wiedererkennen unmöglich zu machen, und wirft das Auge auf ein elementares Erkennen von Form und Farbe zurück. In gleichem Maße wie die Form sich dabei von ihren Begriffsinhalten löst, verliert auch die Farbe ihren kulturgeschichtlich etablierten Symbolcharakter. Was bleibt ist die assoziative Wirkung der Farbe in Abhängigkeit von ihrer Reinheit, Helligkeit, Intensität und Oberflächenstruktur, von ihrer farblichen Umgebung und den räumlichen Beziehungen der Farbflächen zueinander. Die Farbe ist das Material, das Thema, die Kunst. „Abstraktion“, begeisterte sich Ad Reinhardt, „ist der einzig wahre Stil.“

Wo die Farbe an ihre Grenze stößt, entsteht Form. Wie der Igel im Märchen ist sie immer schon da. Diese Grenze markiert zugleich die Nahtstelle, an der beide untrennbar miteinander verbunden sind, und hier entlang bewegt sich die Kunst Jürgen Reicherts. Immer wieder schreitet er die Grenze ab, an der sich Form und Farbe ins Verhältnis setzen, sich aneinander reiben, überlagern, sich gegenseitig verändern. Dort, wo die Farbflächen als diskrete Formen in Erscheinung treten, bleibt das formgebende Element meist der Pinsel selbst. Seine Breite und Struktur bestimmt die Ausdehnung wie auch die Oberflächenstruktur der Farbfelder. Nur selten gestaltet die sich aus der Form ergebende Perspektive den Raum; vielmehr ist es die Farbe selbst. Wie weit eigentlich läßt sich Form auf Farbwirkung reduzieren?

Statt die Farben in die Fläche zu formulieren, dringt Jürgen Reichert in die Tiefe der Leinwand vor. Auf sorgfältig grundierten Oberflächen trägt er die Farben meist lasierend übereinander auf. Die sehr dünne und feine Pigmentverteilung läßt die Farben kräftig erscheinen, ohne ihnen jedoch ihre Transparenz zu nehmen, wodurch das Auge gleichsam in die Tiefe des Bildraums gelenkt wird. Die Art des Farbauftrags bewirkt außerdem, daß die Grenzen der einzelnen Farbflächen durchbrochen werden und an jenen Stellen, an denen sie übereinander liegen, Mischfarben entstehen, die die Grenzen aufheben, um selbst Grenze zu werden und dann wiederum von anderen Farbfeldern überlagert zu werden. In diesem Prozeß von Auslöschung und Entstehung kann die Farbwirkung ihre ganze Kraft ausspielen. Wo Form wieder in Farbe aufgeht, werden die Übergänge fließend. Ein dynamisches Feld kommunizierender Farbflächen öffnet sich, das in Bewegung zu geraten scheint, je länger man hinsieht. Die Farbfelder driften in eine Richtung oder schweben beinahe reglos in einem sorgsam austarierten Gravitationsgefüge. Keine Bildpartie ist einer anderen „überlegen“, kein Effekt vorhanden, der den Blick fixiert; kein Muster, das die Farbe auf den Platz verweist und diesen Fluß zum Stillstand bringt. Die Ordnung ergibt sich aus der Wirkung der Farben aufeinander.
Eine Grenze jedoch läßt Reichert meist unangetastet, und das ist die Bildgrenze. Nur selten gehen Farbflächen über den Rahmen hinaus, wird die Bewegung in ein Außerhalb verlängert. Nichts drängt zu den Seiten der Leinwand heraus, greift nach dem Raum, der sich zu den vier Seiten hin öffnet. Die Bilder bleiben bei sich – ganz wie der Betrachter.

Man sieht, um zu erkennen, daß man nicht weiß. Jürgen Reicherts Bilder sind Projektionsflächen, auf denen man immer nur einen Teil von sich selbst wiederfinden wird. Fast zwangsläufig tritt man als Betrachter in eine Art Befragung der eigenen Form der Wahrnehmung ein. Nutzt man die dabei gewonnenen Erkenntnisse zur Befragung der Wirklichkeit, ist viel erreicht.


Rainer Marx, September 2006

Zuletzt aktualisiert am 19.09.2015 von admin.

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