Petra Wilhelmy - Farbe und Struktur - 1991

Farbe und Struktur

Das elementare Gestaltungsmittel des Malers Jürgen Reichert ist die Farbe. Diese Feststellung mag banal klingen, ein Blick auf die kunsthistorische Tradition zeigt jedoch, daß es innerhalb der Malerei seit jeher sehr unterschiedliche Positionen im Umgang mit der Farbe gibt, daß die Farbe keineswegs bei allen Malern den Rang einnimmt, den Reichert ihr beimißt. Obwohl er sich auch theoretisch mit dem Phänomen Farbe auseinandersetzt, sind seine Gemälde und Aquarelle nicht als Umsetzung theoretischer Erkenntnisse zu verstehen, sondern entspringen vielmehr unmittelbar dem kreativen Schaffensprozeß. Um auffallenden Glanz der Farben zu verhindern, mischt Reichert sie mit nur wenig Bindemittel und trägt sie in dünnen Schichten auf die Bildträger Leinwand und Papier auf. Indem er verschiedene Pinsel, Rollen, Bürsten und andere Werkzeuge benutzt, vermeidet er einen allzu persönlichen Duktus. Sein Ziel ist es, den Zusammenhang von Bildstruktur und Farbwirkung anschaulich zu machen. Reichert bevorzugt kräftige, gesättigte, reine Töne und verwendet Schwarz und Weiß als Farben, nicht als Helldunkelwerte. Farbmischungen entstehen vorwiegend durch lasierende Überlagerungen einzelner Farbflächen, gelegentlich auch durch Verbindung der Pigmente vor dem Auftrag. In Ihrem starken Buntwert und Sättigungsgrad enthalten die Farben Licht; sie leuchten, ohne zu glänzen. Das, was dem schnellen und oberflächlichen Blick als einfarbige, monotone Fläche erscheinen kann, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als komplexes Geflecht sich vielfach überlagernder Farbformen. Linien in eher geradem oder eckigem, gebogenem oder gekringeltem Verlauf von manchmal flächiger, manchmal kalligraphischer Qualität, kammartige Linienverbände, Farbflecken, die mitunter an kleine Fetzen erinnern, aber auch größere Flächenformationen vernetzen sich zu einem dichten, nahezu homogenen Farb-Form-Gewebe. Der Bildaufbau folgt stets dem gleichen Prinzip einer wechselseitigen Durchdringung einzelner meist unregelmäßig geformter Farbflächen, doch ist das Ergebnis, durch die Wahl und Einsatzmöglichkeiten der Farbe bedingt, jeweils ganz individuell. Als Variationen eines Themas könnte man die Bilder Jürgen Reicherts bezeichnen: das Zusammenwirken eigenwertiger, ausdrucksstarker, auf keinen äußeren Gegenstand Bezug nehmender Elemente innerhalb eines in sich geschlossenen Bildganzen, was Abhängigkeit der Teile voneinander und zugleich gegenseitige Ergänzung und Steigerung bedeutet. So erhebt Reichert das Malen selbst, das Gestalten mit der Farbe zum Inhalt seiner Arbeiten. Viele von Reicherts Gemälden, in denen eine Farbe dominiert, nähern sich der Monochromie, ohne sie jedoch wirklich anzustreben. Um die Feinheiten der Mikrostruktur dieser Bilder überhaupt wahrnehmen zu können, muß der Betrachter möglichst nahe an sie herantreten. Das visuelle Erlebnis ändert sich mit der Distanz zum Bild. Verschiedene Buntfarben tauchen als punktuelle Akzente hinter, zwischen oder vor der Hauptfarbe auf und nehmen so teil an der schichtweisen Verflechtung der Farbformen. Die Überlagerung und Durchdringung einzelner Farbstrukturen ergeben räumliche Durchblicke, die aufgrund der formalen Verschränkung immer wieder in die Fläche zurückgebunden werden. Aus diesem ambivalenten Verhältnis von Fläche und Raum resultiert ein Pulsieren der Farbe, dessen Rhythmus zwischen Weitung und Verengung, Öffnung und Verdichtung variiert. Der Akt des Malvorgangs wird im Bild nachvollziehbar und als lebendiger Prozeß erfahrbar. In Reicherts Werken verbinden sich Dynamik und Spannungsreichtum mit einem ausgeprägten Sinn für Harmonie. Obwohl die Bildfläche kleinteilig und gleichmäßig strukturiert ist, erreichen seine Bilder kompositionelle Einheit und Geschlossenheit,. Auch die großflächigen, in souveränem Schwung auf die Leinwand gesetzten Gemälde basieren auf dem Gedanken von in Fläche und Raum interferierenden Farben. Stärker sind hier die Kontraste, autonomer die Einzelteile. Der lasierende Farbauftrag verleiht den Buntflächen eine Transparenz, die ihnen jede Schwere nimmt. Diese Gemälde, in denen der Bildgrund, die weiße Leinwand, als offene Weite mit in die Farbkomposition einbezogen wird, stehen den Aquarellen Jürgen Reicherts sehr nahe. In beiden Fällen muß das Bild auf Anhieb sitzen, ist eine Korrektur mittels mehrfacher Überlagerung von Farbschichten nicht möglich. Es schaffen aber gerade die während eines längeren Entstehungsprozesses wachsenden Bilder die Voraussetzung für die spontan geglückten, transparenten Arbeiten. Die Werke Jürgen Reicherts vermitteln dem, der sich auf sie einläßt, neue sinnliche Erfahrungswerte. Trotz ihrer Buntheit erscheinen sie nicht schrill oder laut, sie bringen vielmehr im gleichberechtigten Miteinander der Farben, Linien und Flächen ein äußerst harmonisches Grundgefühl zum Ausdruck. So wirken sie eher an- als aufregend, aktivieren nicht nur das Auge, sondern auch den Geist. Im gleichzeitigen Vorhandensein lebendiger Bewegtheit und Beruhigung durch Koordination liegt ein großer Zauber.

Petra Wilhelmy

Zuletzt aktualisiert am 16.10.2015 von Jürgen Reichert.

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