Katrin Bettina Müller – Katalogtext 1989

"Denn in den Farben und Formen sind elementare Kräfte enthalten, stärkere Urkräfte als in den dargestellten Nachbildungen. Diese Urkräfte gehören nur dem Sehbaren an und können ihrem Wesen nach nicht in beschreibende Begriffe gefaßt werden. Sie sind nicht der Mantel von Darstellungen, sondern das gegenständlich Dargestellte ist in gewissem Sinn eine Maskierung der Urkräfte."

Willi Baumeister
in: Das Unbekannte in der Kunst
Stuttgart 1947


Ohne die Maske eines gegenständlichen Bildinhaltes, ohne den Anlaß eines in Begriffen zu fassenden Themas zu malen, alles aus der Farbe zu nehmen und alles ihr anzuvertrauen, gleicht einem Balanceakt auf dem hohen Seil. In der Leere schwebend und ohne Halt muß der Maler dennoch jedesmal einen Anfang finden: Entscheidung für eine erste Farbe, eine erste Struktur, eine erste Dynamik. Der Anstoß, ein Bild zu erfinden, fällt oft schwer; ein kleines Wagnis und Abenteuer gegen Ungewißheit und Unsicherheit will riskiert werden.

Ein großer Teil der Bilder von Jürgen Reichert nähert sich der Monochromie: nur flüchtig und aus großer Distanz betrachtet, könnte man sie irrtümlich für eintönige Leinwände halten. Der alltagstrainierte Blick, der ständig aus einer Flut visueller Informationen und Ablenkungen das Wichtige selektieren muß, reagiert oft nur auf den angelernten Symbolwert der Farben. Verkehrsampeln, Flaggen, Parteien, Waren-Design: im Alltag wird die Farbe auf einen Signalwert verkürzt und auf eine kodierte Bedeutung reduziert.

Ohne die kulturelle Gebundenheit der Farbwahrnehmung zu leugnen, versucht Reichert in seiner Malerei die Farben losgelöst von den konventionellen Vereinbarungen ihrer Bedeutung zu thematisieren. Seine Bilder betrachten, kann daher auch heißen, den Ballast antrainierter Bedeutungen abzuwerfen. Die Bilder müssen nicht entschlüsselt oder gar gedeutet werden. Sie öffnen ihren Farbreichtum als sinnliche Erlebnisquelle dem, der sie aus der Nähe und Ferne anschaut. Wer sich in den pulsierenden und atmenden Ausschnitt versenkt, der wie die Vergrößerung eines impressionistischen Farbgeflimmers wirkt, kann im Zurücktreten auf einmal die Tiefe des Bildes erfahren. Dieses aktive Ertasten der Dimension Farbe mit den Augen, dem sich die scheinbar geschlossene Oberfläche des Bildes wie das geheime Tor zu einem verzauberten Berg auftut, korrespondiert mit dem Prozeß der Entstehung der Bilder.

Der harmonische und abgerundete Farbklang, der den Betrachter anlockt, ist aus einer vielfältigen Instrumentierung komponiert. Die Farbe ist lebendiger Stoff, hervorgegangen aus einer Mischung der Elemente. Auf dem untersten Bildgrund reiben die verschiedenen Farben noch ihre Energien aneinander, erzeugen Wärme und Kraft für den künftigen Prozeß. Die Malinstrumente, Pinsel von unterschiedlicher Breite, Bürsten, Kratzeisen und Quasten prägen in die Flächen bewegte Strukturen. In den immer neuen Übermalungen kristallisiert sich ein Farbton stärker heraus; das Gefüge der Striche wird feinmaschiger, gewinnt an Dichte und Tiefe. Die ursprünglichen Energien werden gebündelt, ihre widersprüchlichen Kräfte vereinigt. Doch darf dabei wiederum nicht zuviel Glätte und keine zu leichtgewichtige Harmonie entstehen; Spannung muß die Oberfläche tragen, damit sie nicht in sich zusammenfällt.

Dieser Prozeß verläuft nicht immer gradlinig, er hat seine Winkel und Tücken. Mit jedem Pinselstrich trifft der Maler eine Entscheidung - oft sicher, manchmal versuchend, unzufrieden. Im Atelier des Malers stehen Leinwände, die noch in keine Ausstellung entlassen werden: sie sind in Reicherts Augen keine fertigen und geglückten Bilder, und doch hat er in ihnen etwas ausprobiert und erfahren, was er für andere Bilder brauchte. Jedes Bild bezeugt die Geschichte seiner Entstehung.

Es dokumentiert damit auch ein Stückchen Selbstverwirklichung des Malers. Im Zeitalter der technischen Medien, die Abziehbilder von Wirklichkeit ins unendliche reproduzieren und beliebig simulieren, gewinnen Reicherts Bilder einen besonderen Wert durch ihre Authentizität. Sie halten den nebeneinander taumelnden Scheinwelten, in denen Abbild, Urbild und Fiktion zur Ununterscheidbarkeit verkommen, eine einmalige Realität entgegen. Die Sinne, die zu verkümmern drohen, weil sie ihrer Aufgabe der Orientierung enthoben sind, finden in ihnen eine neue Quelle der Erfahrung.


Katrin Bettina Müller

Zuletzt aktualisiert am 16.10.2015 von Jürgen Reichert.

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