Inge Pace - Farbe als Sprache -1994
Farbe als Sprache.
"Es geht mir vorrangig um Farbe, um gemalte Farbe, Farbe kann man sehen. Und das Sehen und erleben von Farbe ist das, was ich dem Betrachter überlasse und von ihm fordere, nicht mehr und nicht weniger." (Jürgen Reichert)
Eine Forderung, die nicht eben leicht zu erfüllen ist. Traditionsgemäß neigen wir zur Inhaltssuche und da, wo überlieferte Inhalte fehlen und das herkömmliche ästhetische Instrumentarium nicht mehr greift, glauben wir Muster und Formen zu entdecken, die es uns ermöglichen, das Bild unter gewohnten Gesichtspunkten zu rezipieren.
Bei Jürgen Reicherts Bildern führt diese Herangehensweise ins Nichts. Kein struktureller Aufbau, keine Gewichtung, keine geometrische Form bietet dem Auge Halt: Die Farbe steht für sich selbst. In einer stabilen Raum - Fläche - Beziehung behauptet sie ihre Eigendynamik. Anstatt Fakten zu analysieren, werden wir auf die retinale Funktion zurückgedrängt, gezwungen, uns von dem affektiven Gehalt des Bildes durchdringen zu lassen.
Die Kunst sieht uns an. Die Farbe strukturiert unsere Wahrnehmung.
Nähe und Ferne entfalten unterschiedliche Wirkungen. Oberfläche und Tiefe sind das Ergebnis des Zusammenwirkens mehrerer Farbflächen. Auftrag und Strich bestimmen die Textur. In zurückgenommenen Bewegungen versinkt der einzelne Punkt in großflächiger Farbigkeit.
Das Bild ist Spiel und Meditation. Ergebnis des Widerspruchs zwischen physischem Tatbestand und psychischer Wirkung, der Verknüpfung des optisch Erfahrbaren mit persönlicher Empfindung. Zunächst rein physikalisch bedingt, bringen die Wechselwirkungen der Farbe einen Prozess von Assoziationen in Gang, die sich wiederum in schöpferischer Objektivierung auf der Leinwand materialisieren. Das vollendete Bild ist die Summe dieser Beziehungen, die visuelle Formulierung einer Reaktion auf das Leben. Keine Notiz nach dem kontemplativen Erlebnis einer geistigen Anschauung, sondern Bekenntnis zum Lebensvorgang. Es gleicht einer Bewegungsspur aktivierter Lebenskräfte, die sich der Kontrolle des Intellekts entzieht.
Dem Betrachter erscheint das Werk zunächst als geschlossene Präsenz abstrakter Gegenwärtigkeit. Zu eigenständig, um sich der Umgebung als gefälliges Element einzufügen, zu komplex, um sich dem darübergleitenden Blick zu öffnen. Ein organisches Ganzes, dessen Verständnis einer sensiblen Wahrnehmung bedarf und der ständigen Kontrolle des Verhältnisses von aktueller sinnlicher Erfahrung und vorgeprägten Bewußtseinsinhalten.
Farbe ist ein ideales Instrument zur Sensibilisierung, da sie als emotional ansprechbare Größe zugleich physikalisch berechnet und eingesetzt werden kann. Sättigung, Helligkeit und Ausdehnung unterliegen einem dauernden Wandel, weil nie Farbe allein auftritt, sondern in ständiger Relation zu ihrer farbigen Umwelt steht. Ihr Erscheinungsbild ist von vielerlei Faktoren abhängig, nicht zuletzt von unseren Vorlieben und Antipathien gegenüber bestimmten Tönen und Harmonien. Bei Farbzusammenstellungen erzeugt die Tatsache, daß einige Farben zur Beeinflussung neigen, andere sich dagegen leichter beeinflussen lassen Spannungen, die sich dem Auge als Bewegungsabläufe darstellen. Der Grad der gegenseitigen Beeinflussung hängt von der jeweiligen Flächenausdehnung ab und läßt sich an den Konturen ausmachen. Ihre Intensität und damit Ihre Wirkung als trennende oder verbindende Linien wird von der Helligkeit der aneinanderstoßenden Farbflächen bestimmt. Die Grenzen zweier Farben ohne komplementäre Neigungen werden optisch aufgelöst. Aufhellung oder Verdunkelung der Randzonen können so zwei Farben zu einer Fläche verbinden oder durch starke Kontraste eine Licht - Schatten - Wirkung hervorrufen, die ihre stufenartige Abfolge plastisch hervorhebt. Die Farben erscheinen weniger voneinander abgesetzt als vielmehr räumlich zueinander verschoben. So wird die Bildfläche zum Bildraum, ohne perspektivische oder sonstige formale Mittel. Hier geschieht dies in dynamischer Formulierung der Farbflächenbegrenzungen, um jede symmetrische oder gleichartig wiederkehrende Verteilung auszuschließen. Das bedeutet: Jede Farbe tritt in variable Spannungs-, Kontrast-, oder Harmonieverhältnisse zu ihren stets wechselnden farbigen Nachbarn. Die simultanen Wirkungen lassen den objektiv gleichen Farbwert an den unterschiedlichen Positionen visuell jeweils anders erscheinen. Die Farbe wird also - in physikalisch meßbaren Werten - so ins Bild gesetzt, daß sie sich selbst ständig variiert.
Theorien sind wichtig um Zusammenhänge zu verstehen. Das Wissen um Eigenschaften ist Instrument zur Manipulation. Ein Bild ist jedoch immer mehr als die Erklärung bestimmter Phänomene. Die Wirkung der Farben erfolgt zu direkt und spontan, um das Ergebnis einer durch angelerntes Wissen hinzugefügten Bedeutung zu sein. Von Farben ausgelöste Empfindungen sind immer subjektiv geprägt, und es gibt keinerlei Hypothese über den physiologischen Prozess, der den Einfluß der Farbe auf den Organismus zu erkennen ermöglicht.
Indem Reichert auf die Anbindung von Farbe an bestimmte Objekte verzichtet, weist seine Kunst auf sich selbst zurück - auf die Farbe als konstituierendes Element und ihre bildimmanente Wechselwirkung. Und wie der Maler während seiner Arbeit einen individuellen ästhetischen Prozess durchläuft, so bleibt es dem Betrachter vorbehalten, das Bild als Projektionsfläche eines subjektiven Erlebens zu verstehen.
Inge Pace
Zuletzt aktualisiert am 16.10.2015 von Jürgen Reichert.