Hermann Wiesler: Schachbilder, Katalogtext 1981

Jürgen Reichert interessiert Farbe in ihrer optischen und materialen-stofflichen Erscheinung. Hinzu kommt - wie bei jedem Maler - das Erlebnis des Bilder-Machens - wenn Zug um Zug und prozesshaft eine Sache entsteht, ein Bild entworfen und am Ende akzeptiert wird . . .

Diese beiden Elemente - Farblust & Machlust - tragen eine Maler-Existenz. Ästhetisch-psychologisch zum mindesten; wie es ökonomisch aussieht, gehört auch zum Kapitel »Maler-Existenz«, sagt zur Zeit aber nichts zu Jürgen Reicherts Bildern. Wie und was zu malen sei, dafür gibt es keine Rezepte. Jürgen Reichert weiß, Kunst entsteht (auch) aus Kunst; er lebt in keinem ästhetisch-Ieeren Raum.

 Robert Delaunay wie kubistische Erfahrungen und Setzungen spielen eine (anregende, herausfordernde) Rolle. Reichert bespottet Pathos. Darum hat er einen Blick für und einen Zug zu Bilderfindungen von Hann Trier. Dessen Bilder zeigen, was abwägende Klugheit und Spontaneität miteinander verbunden malerisch vermögen: Gestische Handschrift, die intensive Farbigkeit gebraucht, fixiert Chiffren, die gleichermaßen Bewegung wie Farbe als »BiId« festmachen.

 Jürgen Reichert geht methodisch vor. Berge von Skizzen dokumentieren Farb- und Strukturuntersuchungen. Die Bilder werden ohne Vorzeichnung »frei« auf der Leinwand/auf dem Papier entwickelt.

An der Arbeit lassen sich vier Prinzipien erkennen:

1) Die Rhythmik der Bild-Struktur, der Farb-Linien wird aus der Körperhaftigkeit der Armbewegung unmittelbar abgeleitet; mit kurzstieligen Pinseln, die direkt auf Fingerdruck reagieren, werden Nah-Wirkungen ermalt; schwerer, im kleinteiligen Sinne zu kontrollierende Iangstielige Pinsel, die als verlängerte Arme funktionieren, definieren das Bild-Ganze. Reichert schätzt große und ausfahrende Gesten nicht. Er liebt kurze Strich-Lagen.

2) Der Maler gebraucht Elemente verwandter farblicher und linearer Art. (Schwarz wird nicht linear als Umriss- oder Gerüst-Lineatur, sondern als Farbe benutzt.) Diese Verwandtschaft und aus ihr entwickelte Variationen geben den Bildern regelhaftes Erscheinungs-Maß.

3) Die Bildfläche wird dergestalt instrumentiert, dass jede Richtung sich in ihrer Spiegelung, dass jede Bewegung sich in einer Gegenbewegung fangen. Das Ergebnis ist kein Neutralismus: Es wird eine Bild-Konzentration erreicht, die

4) das Bild-Ganze und alle Bild-Teile einander strukturell und dynamisch zugeordnet erscheinen lassen. Die Dynamik vertreibt (Tapeten-)Muster-Haftigkeit.

 Delaunay - als Anreger - spielt eine Rolle. Reichert vermeidet jedoch alles Formelhafte. Es gibt bei ihm keine Illustration von Theorie. Farben, Komplementärfarben werden nicht mechanisch eingesetzt. »Es ist mir zu platt, aus und in angewandter Logik zu arbeiten.« Auf der Grundlage seiner allgemeinen Untersuchungen sucht und bindet sich Reichert in spontane Entscheidungen

(was einschließt, dass er vor einem Bild auch unsicher dasteht - ist es nun »fertig« oder nicht? ...

Das Schach-Spiel, seine Spiel-Fläche und die Figuren-Züge auf ihr, haben eine zentrale Rolle; hier findet Reichert »eine neue Mannigfaltigkeit von rhythmischen Regeln, die das alte Bildgerüst ersetzen« (Robert Delaunay).

Das Schachspiel ist von strenger Normativität; seine Möglichkeiten (so berechenbar sie sind) erscheinen unbegrenzt; die Grundstrukturen sind regelhaft; es kennt Felder und Bewegungen: Wenige Komponenten definieren einen in seinen Möglichkeiten schier unbegrenzten Spiel-Raum. Aus der Reflexion dieses Spiels gewinnt Reichert

für seine Bilder Regelhaftigkeit, Ausnutzen und Einsetzen bestimmter Möglichkeiten, für die in kreativer Setzung es sich zu entscheiden gilt.

Schach wird nicht malerisch interpretiert oder allegorisiert. Das Spiel gibt den Ansatz für den Maler, auf seiner artistischen Basis neue (Mal-)Ordnungen zu finden. Darum erscheinen die Bilder geordnet strukturiert, ihre ästhetische Erscheinung kann nicht genauer, nicht optisch schärfer gesetzt werden. Die Bild-Fläche ist netz- oder winkelhaft und gleichgewichtig mit der Wirkung malerisch instrumentiert, daß sie »sanft« zentriert oder in der Diagonale (meist von links oben nach rechts unten) betont wirkt. Das Bild hat so Konzentration und entschiedene Farb-Räumlichkeit.

Mit Tricks und Augen-Schockern wird nicht gearbeitet.

 Jürgen Reichert malt mit (überwiegend) reinen, kaum im Ton gedämpften und unvermischten Farben. Selten gibt es gebrochene oder Erd-Farben. Wenn überhaupt, werden die Farben auf der Bildfläche vermischt (selten auf der Palette),

ab und zu lassen Lasuren Farbmischungen oder Überlagerungen entstehen. Reichert bevorzugt gute Pigmente, die ein hohes Maß an Leuchtkraft und Reinheit gewähren. Die Farbskala ist reich, kühle Tonigkeit überwiegt. Mattfarbige Bindemittel bewirken ein trockenes Leuchten. Ölhaltige Bindemittel, die die Bilder filmartig zusiegeln, sind nicht zugelassen.

 Jürgen Reichert gebraucht eine entwicklungsgeschichtlich definierte Maltradition oder zumindest Teile von ihr. Er gebraucht sie, er beutet sie nicht aus - er entwickelt sie. Er erreicht einen bildnerischen Ausdruck, der gegenwärtig und nicht restaurativ ist. Die Bilder sind nicht »heftig«. So, wie sie »da« sind, erscheinen sie ruhig. Ruhe, die keine Ruhe gibt. Bild-Ruhe, die optisch an- und aufregt.

Hermann Wiesler

Zuletzt aktualisiert am 16.10.2015 von Jürgen Reichert.

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