"Farbe Frisch" Petra Wilhelmy - Katalogtext 2010 Galerie Walzinger
Farbe frisch: präsent und unergründlich
Malerei ist Begegnung von Farben auf der Fläche. In den Bildern Jürgen Reicherts treffen die Farben sehr lebhaft aufeinander, es geht in ihnen, salopp gesagt, drüber und drunter. Hier liegt Rot über Blau, dort Grün unter Orange, an anderer Stelle Violett vor Gelb oder eventuell auch daneben. Die Farbtöne tauchen in gleicher Intensität in verschiedenen Bildebenen auf, springen vor und zurück, drängen sich zusammen und füllen den gesamten Bildraum mit ihrer Leuchtkraft. Sie verzahnen sich zu einem engen und dennoch durchlässigen Geflecht, das immer wieder Möglichkeiten einschließt, in tiefere Zonen einzudringen oder auch Durchblicke ins Lichte, Helle eröffnet.
Obwohl das Spiel der Farben in den einzelnen Bildern mit Ausnahme der wenigen zur Monochromie tendierenden Arbeiten sehr bewegt ist, bestimmt ein koloristischer Gesamtklang Reicherts Werk im Ganzen. Immer wieder findet man verwandte Farbtöne und -kombinationen, auch die Formen wiederholen sich. Sie sind identisch mit der Ausbreitung der Farben und lassen sich nicht exakt benennen. Begriffe wie pinselbreite Balken, eckige, runde und ovale Felder oder Flecken treffen vielleicht am ehesten zu. Farbformen ergänzen sich zu Komplexen, die man ebenso schwer in Worte fassen kann. Weder gegenständlich identifizierbar noch als Figur konzipiert fließen sie als freie Gebilde ein in den farbigen Kosmos des Gemäldes.
Gegenüber den kleinteiligeren und kompakteren Werke der 90er Jahre mit ihrer pulsierenden Bewegungsenergie besitzen Reicherts aktuelle Arbeiten, ähnlich den früheren Aquarellen, mehr Offenheit und eine stärkere Autonomie der farbigen Flächen. Auch in den Werkgruppen, in denen die Malstrukturen die Bildfläche gleichmäßig überziehen, löst Reichert durch seine lasierende Technik Substanz und Dichte der Acrylfarbe auf und steigert deren raumhaltige Wirkung. Sowohl in den optisch über die Bildgrenzen hinausströmenden Arbeiten aus einer Vielzahl schmaler, sich mehrfach überlagernder Querrechtecke als auch in den weniger kontrastreichen, großflächig angelegten Bildern mit meist vertikalem Richtungszug durchflutet das Licht das relativ strenge Farbgefüge und verwandelt es zu einer zarten, flüchtigen Erscheinung.
In den Gemälden, in denen frei geformte, meist abgerundete Farbflecken in Beziehung zueinander treten, erzielt Jürgen Reichert unterschiedliche Grade an flächiger Bindung und räumlicher Weitung. Zwar ist auch hier eine ausgewogene Verteilung der Formen über das gesamte Bildfeld die Regel, doch weichen die Zonen farbiger Verdichtung und Lockerung stärker voneinander ab. Durch Übereinanderlegen transparenter Bezirke konzentrieren sich die Farben an etlichen Stellen und wirken dort zusammen. Es entstehen neue Mischtöne, die teilweise offenlegen, wie es darunter aussieht. Oft sind diese Partien so dünn lasiert, dass borstige Abdrücke des Pinsels sichtbar bleiben. Häufig malt Reichert auch bewusst mit Farbe zeichenhafte oder graphisch anmutende Muster. In ihnen wird die Geste des Malaktes selbst Gestalt. Die Bewegung der mit Farbe agierenden Hand des Künstlers zeichnet sich mit ein in das Konglomerat des Bildes. Dynamische Verläufe, die in den Drehungen, Streifen, Rinnsalen und Verwischungen der Farbspuren festgehalten sind, spiegeln, ebenso wie die sukzessiv geschichteten Felder, zeitliche Prozesse wider. Sie bewahren Momente der Bildentstehung und machen nachvollziehbar, dass ein Kunstwerk nicht nur als Schöpfungsprodukt existiert, sondern in seinen Strukturen auch Ereignisse in der Zeit repräsentiert.
Aufgrund wiederholter Überschneidungen bleibt das Raumerlebnis in Reicherts Bildern fragmentarisch, berücksichtigt man allein die formalen Bedingungen. Der Raum erschließt sich in begrenzten Sprüngen und gewinnt nur partiell an Tiefe. Doch ist Jürgen Reichert ein Künstler, der ganz aus dem Wesen der Farbe heraus fühlt und malt. Bezieht man daher die Raumwirkungen seiner lichthaltigen Farben mit ein, dehnt sich der dicht gestaffelte Raum seiner Werke ins Unendliche. Die Farben scheinen von hinten durchleuchtet zu sein, so dass sie nach vorne ausstrahlen können und in ihrer Transparenz zugleich einen unbegrenzten Lichtraum im Hintergrund erahnen lassen.
Die Farben Jürgen Reicherts vereinen zwei Grundeigenschaften. In ihrem maximalen Buntheitsgrad sind sie koloristische Werte, in ihrem immateriellen Charakter zugleich Lichtwerte. Reichert bevorzugt helle, kräftige Töne, die den Spektralfarben nahestehen. Erdige und trübe Farben schließt er nahezu aus, auch dunkle Klänge kommen selten vor. In seinen von physischer Schwere befreiten, spannungsgeladenen Farb-Form-Konstellationen klingen ideelle Realitäten jenseits des Greifbaren mit: Sinneseindrücke, Emotionen, Geist, Transzendenz.
Reicherts Farbe ist frisch und unmittelbar, ursprünglich und stark im Ausdruck. Seine Bilder wirken jung und hellwach. Spontan lösen sie beim Betrachter Empfindungen aus wie Leichtigkeit, Optimismus, mitunter Heiterkeit oder gar Ausgelassenheit. Man spürt förmlich das Schweben, Tanzen oder Dahintreiben. Aber auch Einbindung in eine übergreifende Ordnung, Zusammenhalt und Balance werden intuitiv erfasst. Assoziationen an Naturerlebnisse, Wind und Luft etwa oder das Fließen von Wasser, und an Architektonisches können sich einstellen. Manchmal weisen auch die Bildtitel in diese Richtung.
Das Interesse Jürgen Reicherts gilt primär der Farbe, ihren charakteristischen Merkmalen und Wirkungen. Sie ist das essentielle Gestaltungsmittel seiner Malerei. Bei allen Schichtungen, Mischungen, Kontrasten und Interaktionen sucht er immer ein Gleichgewicht zwischen momentanen Malbewegungen und daraus resultierenden Formen. Durch verwischte Spuren, eine latente Unschärfe sowie die Lichtkomponente seiner leuchtenden Farben gelingt es Reichert, die packende Präsenz seiner Werke um die Dimension eines letztlich Unergründlichen zu steigern.
Petra Wilhelmy
Zuletzt aktualisiert am 16.10.2015 von Jürgen Reichert.