Dr. Sabine Graf – Vom Leben der Farben – 2000

Malerei und sonst nichts. Unabhängig von gängigen Moden, dennoch aktuell: So präsentiert sich das Werk des Malers Jürgen Reichert. Dem Meisterschüler von Hann Trier ist die Farbe als Ereignis dem Werk zentral. Auf nichts anderes als auf Farbe und den sie auf die Leinwand bannenden Gestus ist die Arbeit Reicherts konzentriert. Zwei Wege erschließen sich dabei dem Maler wie dem Betrachter. Zum einen, durch das aus vielen kleinen, heftigen Strichen und Kringeln übereinandergeschichtete Geflecht der Farbe als Raum. Rot wimmelt wie eine Fläche sich kringelnder Würmer, pulsiert wie ein offen gelegtes Herz. Und doch sind die gefundenenen Vergleiche notwendig subjektiv. Sie stehen in der Macht des Betrachters. Denn seine Malerei, fasste es Jürgen Reichert einmal zusammen, ,,will nichts. Die Malerei entsteht aus mir und dem Gegenstand des Bildes, sie entsteht in der Wahrnehmung ihrer selbst und bezieht sich auf nichts außer sich selbst." Worte vermögen die Gegenwart der Farbe, das, was auf dem Malgrund passiert, nicht zu fassen. Das Bild entzieht sich ihnen und erweist gerade dadurch seine Majestät. Es ist. Wir sind, weil wir es erleben. Was wir beschreiben, ist dem Ereignis der Malerei nachgelagert.

Der andere Weg zur Farbe führt durch die scheinbar monochrome Fläche, die sich durch feinste Nuancen als pulsierendes Gewebe entpuppt. Cremeweiß bebt und darüber liegt ein Netz kirschroter Punkte, das die Fläche zusammenhält. Immer mehr verschwanden die Farben, um sich wie in einem Brennglas im Weiß zu sammeln. Von dort aus öffnete sich ein dritter Weg zurück in die Farbigkeit. Nicht mehr das klare, knallige Rot und das heftige Blau beherrschten fortan die Leinwand. Sanfte, sonnensatte Pastelltöne, verwaschenes Rosa, mit Orange liebäugelndes Gelb oder sanftes Grün und Babyblau bestimmen derzeit die Palette des Malers. Die Farben behaupten sich und haben die pulsierende Bewegung verdrängt. Stattdessen atmen sie ruhig aus und saugen den Blick des Betrachters ein. Als flächiges Arrangement setzt Jürgen Reichert die Farben nebeneinander und lenkt das Augenmerk auf die Übergänge. Die Nuance schärft den Blick für schwere und leichte, matte und leuchtende Farben. Schwarze Flächen halten die schwebenden Farben in Balance und erden die Farblandschaft. Zaghaft schlingen sich mitunter Farben, kalligraphischen Gesten gleich, ineinander. Die Begegnungen an den Rändern der einzelnen Farbflächen und die Farbfelder untereinander provozieren Spannungen, aus denen sich das Werk Jürgen Reicherts nachhaltig speist. Die Farben sind sich genug. Sie haben dazu die Kraft. Jürgen Reichert spitzt damit die Wahrnehmung zu, indem er das Erlebnis Farbe schafft und einen Zustand erreicht, der aller Moden zum Trotz gegenwärtig ist: Den der Unmittelbarkeit.

 

Dr. Sabine Graf

Zuletzt aktualisiert am 16.10.2015 von Jürgen Reichert.

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