Dr. Sabine Graf anlässlich der »Langen Nacht der Museen« im Januar 2005

Jürgen Reichert: Öfters mal in die Nischen schauen, um das Leben nicht zu verpassen

es wäre zu einfach, wenn auch nahe liegend, angesichts roter Punkte inmitten grauweißer Kringel auf Leinwänden an Kirschblüten und andere Frühlingsboten zu denken. Man könnte vielleicht auch der Versuchung nachgeben und die roten Tupfen für kandierte Kirschen nehmen und sie schon zwischen den Zähnen spüren. Was könnte dann kommen? Kindergeburtstag, Topf schlagen, Blinde Kuh und mannigfache Erinnerungen an Dinge, die scheinbar in den Bildern liegen. Assoziation sonder Zahl stellten sich ein, sofern man den Bildern von Jürgen Reichert den Rang zuspräche, Stellvertreter von Dingen aus unserem Leben zu sein. Wollte ich mich dazu entschließen, ihnen diese Aufgabe zuzuteilen, könnte ich Ihnen eine Geschichte erzählen, irgendeinen Budenzauber veranstalten, um von den Bildern weg zu führen.

Machen wir es also anders und schauen einfach auf die Bilder.

Probieren wir es, so erleben wir eine Überraschung. Wir wissen mehr, weil wir hinsehen. Sage daher keiner, er verstehe nichts von Bildern. Das ist nur eine Schutzbehauptung. Wir brauchen nur das Auge, das Wissen um die Geschichte der Malerei ist wichtig, aber für den Moment der Betrachtung durchaus unerheblich. Es war und ist eine Sprache der Farbe, die befreit vom Gegenstand und aus sich selbst heraus Form und Struktur gegeben wird. Diese Sprache ist unmittelbar, weil sie auf das verweist, was sie darstellt: Auf die Farbe und den sie bestimmenden Malprozess.

Die Betrachter wissen nicht, was sie verpassen, wenn sie Vergleiche anstellen und Assoziationen zu Gegenständen zu lassen.

So tupfen die Fingerkuppen kleine Ovale. Sie bilden lange Reihen und überlagern den Bildraum. Was von fern wie eine monochrome Fläche scheint, ist aus der Nähe gesehen, ein Feld flimmernden Farbnuancen. Die Rillen der Fingerkuppen setzten feinste Strukturen, in denen sich der Blick verfangen kann. Der Druck der Finger legte einen kurzatmigen Rhythmus auf die Fläche. Das Auge, das die Fingerspuren liest, erlebt unmittelbar diesen Vorgang. Der Betrachter wird Teil des Prozesses, der einzig den Maler interessiert. Beiden prägt sich die Farbe über den eigentümlichen Rhythmus ihres Auftrags umso tiefer ein. Rot, Gelb und Blau folgen einer Bewegung, wobei die Geste vom großzügigen Strich zum kleinteiligen Stricheln führt. Derjenige, der ihr folgt, dessen Atem verändert sich vom gleichmäßigen Ein- und Ausatmen zum Stakkato der kurzen pulsierenden Schnaufer. Er spürt die Malerei intensiver, weil es nur um sie geht und sie der Aufgabe ledig ist, etwas abzubilden.

Einmal auf diese Sicht der Dinge eingeschworen, dringt der Blick in die Tiefe, erkennt die sich überlagernden Farbschichten, sieht Kontraste und Kombinationen und bemerkt die Reichtümer des Zwischenraums. Dort, wo sich Farben überschneiden, Grün auf Rot trifft und dabei dem Auge einen Stich versetzt, vibriert die Fläche. Farben schimmern, verschwimmen und dämmern dahin, mal im heftigen Streit, mal in größter Sympathie füreinander.

Die Hand des Malers schürt diese Begegnungen, indem er die Farben durch Kringel, Kreise, Striche verschiedenster Größe rhythmisiert und mit Farben schreibt. Doch erzählt er von nichts als den Farben. Er spricht, obwohl die Bilder Monate und Jahre alt sind, immer im Präsens. Wir sollten daher dieses Angebot der Unmittelbarkeit einer Darstellung annehmen.

Ja, mag nun einer einwenden, das hat alles gar nichts mit dem Leben zu tun. Doch das hat es. Es ist noch näher am Leben als es jede Abbildung von Mensch, Tier und Baum es ist. Man schaut in den Bildern in das Leben selbst hinein. Denn darin nimmt sich jemand die Freiheit, sich den Farben zu widmen und den Blick darauf zu lenken. Er ist souverän und entscheidet sich für das Beschreiben und auf die Pointe zu verzichten. Auch dieses Schreiben verlangt, wenn die Komposition stimmen soll, Grammatik und Syntax, die in stetiger Arbeit im Atelier erworben und erweitert sein will. Jedoch steht sie für sich.

„Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug“, schrieb die Dichterin Hilde Domin.

Das heißt, sich auf sich selbst zu verlassen. In unserem Fall, unbedingt auf seine Augen zu vertrauen.

Dieser Schritt führt zu uns zurück und hat sehr viel mit dem Leben zu tun. Wer sich auf seine Qualitäten, Fähigkeiten besinnt und auf sie vertraut, weiß um sich selbst und hat die Kraft, auch ganz andere Dinge im Leben anzugehen.

 

SABINE GRAF

Zuletzt aktualisiert am 18.09.2015 von admin.

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